Donnerstag, 27. September 2012

Phaser auf Betäubung

Ich befand mich in der Progressive-Rock-Phase, erste Hälfte Achtziger, und war gerne bereit, diese Musik zu verteidigen gegenüber jenen, die den ProgRock als unerträglich kunstsinniges Salbadern charakterisierten und seine Adepten als Bildungsbürgernachwuchs, der sich für was Besseres hielt, weil er ELP analysieren konnte, aber von ordentlich schwitzendem Rock, rebellionsverheißendem Punk, dunkelmanischer New Wave und generationsprägendem Pop notorisch keine Ahnung hatte. Sie hatten natürlich recht, diese Kritiker, aber das war mir damals egal. Ich wollte auch ein bisschen kunstsinnig sein. Ein bisschen nur. Außerdem glaubte ich sowieso entdeckt zu haben, dass mir der etwas härtere Anschlag zusagte, der Moment, wenn ProgRock in Richtung prolligen Hardrock umkippt statt in Richtung Hochkultur.
Ich überprüfte damals auch die Kanadier hinsichtlich ihrer Relevanz. Unter Bürgersöhnchen war gerade das Trio Rush angesagt: Seine kunstvoll organisierte, virtuos eingespielte, aber auch ziemlich ruppige Musik hatte eine Konsensband zur Folge, die den Eindruck vermittelte, etwas Besseres zu sein, aber auch headbangerische Gelüste befriedigen zu können. Heute gilt Rush als die Nerd-Band schlechthin. Das begann damals, als kulturell ambitionierte und zugleich technologieverliebte Bürgersöhnchen, die sich zu Weihnachten ein Keyboard wünschten, die Band anzuhimmeln begannen.
Egal jetzt. Im Zuge meiner Kanada-Studien traf ich jedenfalls auf die Band FM und ihr Debütalbum Black Noise von 1977. Auch diese Band war ein Trio und bevorzugte eine etwas abweichende, elegische, sehr bewegliche Fusion aus symphonischem Melodic Rock, Spacerock und Jazzrock. Der erste Song, den FM auf Vinyl bannten, heißt „Phasors on Stun“ („Phaser auf Betäubung“), und er ist das schönste Musikstück der Welt. Einfach deshalb, weil er die lästige Erdenschwere aufhebt und einen sofort und unmittelbar in einen Zustand katatonischer Glücksseligkeit katapultiert, der nie aufhören sollte, es aber nach knapp vier Minuten bedauerlicherweise doch tut. Man ist erstmal erstaunt über diese Phase unbedingter Lebensfreude, die gar nichts anderes mehr zu kennen scheint als Lebensfreude, ehe man runterkommt, eine gewisse Traurigkeit ob des Verlusts verspürt und sich auf der LP auf die Suche nach weiteren solcher Momente begibt. Man findet sie, z.B. in dem instrumentalen Fusion-Irrsinn „Slaughter in Robot Village“ oder dem monumentalen Titelstück am Ende des Albums mit seiner perkussiven Grandeur, aber wie ein Junkie kehrt man zurück zum Opener „Phasors on Stun“, um dieses ästhetische, gravitationsverneinende Taumeln, auf das man in dieser Form völlig unvorbereitet war, noch mal zu erleben.
FM benutzen keine E-Gitarre. Die wird ersetzt durch Mandoline und Geige, an denen sich eine mysteriöse Kunstfigur namens Nash the Slash abarbeitet. Nash tritt bis zum heutigen Tag als Solist auf, bandagiert und mit Sonnenbrille wie „der Unsichtbare“ und mit Zylinder und Frack. Er ist eine kanadische Electro-Rock-Ikone. Als Mitglied von FM arbeitete er Mandoline und Geige als Trägermedien in die Rockmusik ein und benutzte sie nicht bloß als exotische Solo- und Nebendarsteller. Und zusammen mit Cameron Hawkins als Sänger, Bassist und Keyboarder sowie Martin Deller als Gottes eigenem Drummer destillierte Nash pure Schönheit.
„Phasors on Stun“: Nach dem flirrenden Mandolinen-Intro, untermalt von esoterischem Keyboardschweben und Drum-Akzenten, steigt ein steiler, weltabgewandter, nach oben zischender Melodic-Rock-Bogen auf, der einer Sehnsucht nach Weite und Schönheit Ausdruck verleiht, wie man sie selten gehört hat. Dabei scheint die Mandoline diesen technologischen Keyboard-Spacerock, diese Raketenantriebsmusik, aber im Folkloristischen zu erden. Ungewöhnlicher Sound. Auf Youtube hat jemand Videos von Jetflügen mit diesen Klängen untermalt. Und der Mann HAT RECHT.
Aber es kam natürlich, wie es kommen musste. Irgendwann hatte der Jungmann sich daran satt gehört, die Jahre schritten voran, Kleinbürgersöhnchen ging studieren, wollte jetzt selbst ein bisschen hip werden und hörte mit Vorliebe das, was die „Spex“ ihm und seiner Generation empfahl. Musste ja mitreden können. Kurzum: Ich habe „Phasors on Stun“ seit wohl mehr als 25 Jahren nicht mehr gehört. Dann lese ich vor kurzem, dass Cherry Red Records aus UK im Herbst den gesamten Katalog der Band FM neu und remastered auflegt. Und denke bei mir: „Muss ich auch mal wieder anwerfen.“ Natürlich erwarte ich eine Enttäuschung, vielleicht sogar einen Anfall von Schüttelfrost, wie so oft. Tatsächlich aber hauen mich die ersten Klänge des Mandolinen-Intros fast von der Sitzgelegenheit, und im Innern des gealterten Kleinbürgersöhnchens baut sich eine Spirale von regelrechter Kunstsinnigkeit auf, die sich immer schneller dreht, eine spiralige Sehnsucht nach – ja, was wohl? – nach Weite natürlich, nach stahlblauem Himmel und einem ordentlichen Triebwerksstrahl unterm Arsch, nach Mandoline! Fliege hoch, kleines Raumschiff!